Praxis-Newsletter – Juli 2025

Beziehungsstreit als Wachstumschance und Möglichkeit, eigene Schattenanteile zu erkennen

Ihr geratet mal wieder so richtig aneinander, die Diskussion gerät in Schieflage und wird zunehmend destruktiv und verletzend. Ein Wort gibt das andere und je nach Temperament wird es lauter oder immer leiser bis hin zu verletztem oder eisigem Schweigen. Funkstille, über Tage und Wochen, bei manchen altgedienten Paaren ein Dauerzustand, man redet dann gar nicht mehr, weil es zu viele „Tretminen“ gibt, die keinen Spielraum für liebevolle, ehrliche und offene Kommunikation mehr lassen. Viele trennen sich lange vorher und versuchen es mit anderen Partnern aufs Neue, oft, um wieder zu scheitern, immer an den gleichen Mustern. Doch das muss nicht sein, mit ein klein wenig Mut, bedingungsloser Liebe, Neugier und Offenheit lassen sich solche Muster auflösen und neu ausrichten. Das Wissen ist vorhanden, wir müssen es einfach nur anwenden!

Am Anfang jeder großen Liebesgeschichte steht in der Regel Verdrängung und Projektion. Von der Anthropologin Dr. Helen Fisher durchgeführte MRT-Untersuchungen haben im Gehirn von Verliebten ein ähnliches Bild wie bei Drogenabhängigen gezeigt und bei Menschen mit Liebeskummer ein ähnliches Bild wie bei Abhängigen auf Entzug. Dabei geht das Verlangen nach dem „Objekt der Begierde“ weit über eine durch körperliche Attraktivität verursachte Anziehung hinaus. Hier sind Kräfte am Werk, die nur die Tiefenpsychologie erklären kann. Rein biochemisch ist das Ganze nicht erklärbar. Wichtig: Hier geht es nicht darum, das Verliebtsein als etwas Negatives darzustellen. Man kann diese Phase nicht überspringen, aber mit etwas mehr Bewusstheit übersteht man den Übergang von der Verliebtheit zur Liebe etwas besser.

John A. Sanford benutzt in seinem Buch „Unsere unsichtbaren Partner“ das Bild von Romeo und Julia und erklärt, warum die beiden sterben mussten: Es wäre für Shakespeare undenkbar gewesen, die Geschichte von der größten und stärksten Liebe der Welt in der Banalität des Alltags fortzuführen: Romeo und Julia streiten sich im Kaufhaus darüber, welches Sofa sie in die gemeinsame Wohnung stellen, eine Horrorvorstellung! Die Sitcom war noch nicht erfunden und man kann sich Romeo nur schwer als Al Bundy vorstellen, eine Hand am Gemächt und die andere an der Bierflasche, während die Sportschau läuft, da steigt ja sofort akute Übelkeit auf!

Nein, das, was Romeo und Julia zur größten Liebesgeschichte aller Zeiten macht, ist die gegenseitige Projektion von verdrängten Anteilen. Romeo erkannte seine innere Julia nicht in sich selbst und brauchte deswegen die äußere Julia, um das, wofür sie für ihn symbolisch stand, in sein eigenes Selbstbild zu integrieren. Für Julia galt spiegelbildlich das Gleiche, sie projizierte ihren inneren Romeo. Zur Integration ließ Shakespeare es bedauerlicherweise nicht kommen, wie schon geschildert.

Dazu hätten die beiden sich nämlich mal ordentlich in die Haare bekommen müssen, wofür aber niemand Eintritt ins Theater bezahlt, weil das kennen wir normal Sterblichen ja von zu Hause. Wir schauen uns lieber den gehirnphysiologischen Ausnahmezustand an, den wir schon überwunden haben, um uns auf dem Nachhauseweg vom Theater wieder mit gegenseitigen Vorwürfen zu traktieren: „Hast Du gesehen, wie er seine Julia auf Händen getragen hat? Einmal nur möchte ich nur ansatzweise von Dir noch einmal so angesehen werden, denn Du siehst und hörst mich ja schon überhaupt nicht mehr!“ Woraufhin dann vielleicht kommt: „Du tötest einem mit Deinem ständigen Gemeckere ja auch den letzten Nerv, Du könntest ja auch mal wieder so wie Julia einfach nur lieb zu mir sein und die Klappe halten!“

Aber wie kann es sein, dass die angebetete Prinzessin sich innerhalb weniger Jahre in eine nervtötende Furie und der angehimmelte Prinz auf dem weißen Schimmel sich in relativ kurzer Zeit in einen lieblosen Dödel oder Tyrannen verwandelt, da stimmt doch etwas nicht!

Ja genau, da stimmt etwas nicht, und zwar stimmt unser Selbstbild nicht mit der Realität überein, was dazu führt, dass wir uns nicht in eine reale Person verlieben, sondern in eine innere Vorstellung, ein Traum- und Wunschbild, das mit der äußeren Person, auf die wir diese Bild projizieren, oft nicht allzu viel zu tun hat. Wir sehen in einer intelligenten und nüchternen Realistin eine träumerische Romantikerin oder in einem sensiblen, ängstlichen Träumer einen furchtlosen Ritter ohne Fehl und Tadel. Und das sind genau die Anteile, die uns in der bewussten Wahrnehmung unserer selbst fehlen. Der sensible, ängstliche Träumer wäre gerne ein furchtloser Ritter ohne Fehl und Tadel und kann seinen ängstlichen, sensiblen, träumerischen Anteil nur schwer akzeptieren. Also projiziert er ihn auf die nüchterne Realistin, die wiederum gerne öfter mal eine träumerische Romantikerin wäre, die sich nicht den ganzen Tag den Hintern abarbeiten muss. Gerne hätte sie mal einen fruchtlosen Ritter ohne Fehl und Tadel in ihrem Leben, der sie auf ihr Schloss entführt, das sie natürlich sofort auf Vordermann bringen würde, da sie sich als Kontrollfreak ja gar nicht erlauben kann, etwas dem Zufall zu überlassen und für Romantik kann man sich auch nichts kaufen! Im Grunde weiß sie, dass alle Ritter erbärmliche Waschlappen sind, auf die man sich nicht verlassen kann. Aber die Hoffnung stirbt ja zuletzt.

Also streiten sie sich munter. Aus der träumerischen Romantikerin, die im Selbstbild der nüchternen Realistin nicht ausreichend zur Geltung kommt, wird eine verbitterte Alte, die an ihrem Couch-Potato kein gutes Haar lässt und aus dem furchtlosen Ritter ohne Fehl und Tadel, der sich gegen sein ängstliches Ego nicht durchsetzen konnte, wird ein verbal gewalttätiges Ekel, das seine Giftpfeile ohne Unterlass verschießt und am Ende alles zerstört, um dann wieder alleine zu sein, was dem ängstliche Ego dann wieder Recht gibt: „Siehst Du, Du Versager, Du bekommst es halt einfach nicht hin!“

Was ich gerade beschrieb, ist nur eine von vielen denkbaren Varianten dieses Trauerspiels. Alle Arten von unbewussten, nicht gelebten Anteilen, unbewussten Ängste, Wünschen und vor allem Selbstunsicherheiten können dazu führen, dass der eigene weibliche oder männliche Anteil seine dunkle Seite zeigt, um auf sich aufmerksam zu machen. Wichtig ist, dass wir uns merken, dass DIESE SCHATTENANTEILE sich streiten. Es ist nicht unser bewusstes, vernünftiges Selbst, das sich streitet, es sind unsere inneren Dämonen! Vereinfacht gesagt verlieben sich also z.B. die innere Frau des Mannes in den inneren Mann der Frau und nach ein paar Jahren streiten sich die dunklen Versionen dieser inneren Anteile, die innere „Cruella De Vil“ des Mannes also mit dem inneren „Darth Vader“ der Frau sozusagen. Und auch diese dunklen Anteile werden wieder projiziert und deswegen denkt der Mann, mit Cruella De Vil verheiratet zu sein und die Frau sieht den Darth Vader in ihm. In Wahrheit schauen beide in den Spiegel ihrer eignen, unbewusst projizierten Anteile. C.G. Jung nannte die innere Frau „Anima“ und den inneren Mann „Animus“. Zu Cruella De Vil und Darth Vader werden diese Anteile u.a. dadurch, dass wir hinter unseren eigenen Erwartungen an uns selbst zurückbleiben und die Verantwortung dafür auf unsere Partner projizieren.

Und genau hier liegt auch unsere Chance auf Heilung, Bewusstwerdung, Integration und Selbsterkenntnis. Folgende Schritte können uns helfen, eine Streitsituation in Ehe und Beziehung – oder auch jegliche andere Streit-Situation im Leben – in persönliches Wachstum zu verwandeln:

  1. Selbstreflexion und Bewusstwerdung: Nimm dir Zeit, um deine eigenen inneren Anteile zu erforschen. Frage dich, welche unbewussten Gefühle, Ängste oder Wünsche in dir aktiv sind, die möglicherweise deine Kommunikation beeinflussen. Das kann dir helfen, Muster zu erkennen, die zu Konflikten führen.
  1. Akzeptanz der dunklen Anteile: Anstatt diese Anteile zu verdrängen oder zu verleugnen, ist es wichtig, sie anzuerkennen. Sie sind ein Teil deiner Psyche und haben oft eine wichtige Botschaft. Durch Akzeptanz kannst du lernen, mit ihnen konstruktiv umzugehen.
  1. Integration durch Bewusstheit: Versuche, deine dunklen Anteile in dein Bewusstsein zu holen und sie zu verstehen. Das kann durch Gespräche mit einem Therapeuten, Meditation oder Journaling (Tagebuch) geschehen. Wenn du deine inneren Anteile kennst, kannst du bewusster entscheiden, wie du in Konfliktsituationen reagierst.
  1. Kommunikation mit dem Partner: Teile deine Erkenntnisse offen und ehrlich mit deinem Partner. Das schafft Verständnis und fördert eine tiefere Verbindung. Es ist hilfreich, gemeinsam an der Bewusstwerdung und Integration zu arbeiten.
  1. Arbeit an der eigenen Entwicklung: Das Ziel ist, eine Balance zwischen den bewussten und unbewussten Anteilen zu finden. Das fördert eine gesunde Selbstwahrnehmung und eine liebevolle, respektvolle Kommunikation in der Beziehung.

In diesem Sinne wünsche ich Dir einen sonnigen und kommunikativen Juli und freue mich wie immer, von Dir zu hören und Dich zu sehen!

Jörg Schuber

Bildnachweis: ChatGPT-Bildgenerator: https://chatopenai.de/# (Ein Liebes-paar [Mann und Frau] streitet sich und wird dabei von seinen unbewussten Schattenanteilen in Anima und Animus beherrscht)

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