Individualisierung versus Gleichmacherei – das zentrale Missverständnis der Moderne
Während der Osten eher auf das Kollektiv setzt und in vielen östlichen Kulturen das Individuum hinter die Gemeinschaft zurücktreten muss, die Familie einen größere Macht über den Einzelnen hat, aber auch mehr Schutz und Geborgenheit bietet, steht im Westen das Individuum klar im Vordergrund, neuerdings scheint der Individualisierung schon gar keine Grenze mehr gesetzt, erlaubt ist, was gefällt, verändere Dein Äußeres, Deine Identität, Dein Geschlecht, Deine Lebensumstände ganz nach Belieben, die Freiheit des Einzelnen endet nur an der Freiheit des Nächsten und sehr häufig nicht mal das. Wer hat also Recht, der Osten oder der Westen? Welche Strategie ist besser, führt zu größerem Glück und Erfolg?
Möglicherweise keine von beiden, weil der Mittelweg mal wieder im Verborgenen liegt und von der Masse der Menschen nicht berücksichtigt wird. C. G. Jung nannte diesen Weg „Individuation“. Das hört sich so ähnlich an wie „Individualisierung“, ist aber etwas ganz anderes.
Sowohl die Individualisierung als auch ihr Gegenpart, die Forderung nach Konformität, Vereinheitlichung, Integration oder sogar Kollektivierung, haben den äußeren Menschen in seiner gesellschaftlichen Rolle im Blick. Viele westliche Gesellschaften fördern und fordern zunehmende Abgrenzung und Differenzierung. Dies geht einher mit Selbstoptimierung, sich von der Masse abzuheben, etwas Besonderes zu sein in Bezug auf Lebensstil, Konsum, Status. Es ist ein System des Wettbewerbs, der „Alleinstellungsmerkmale“, man muss „sich durchbeißen“, besser sein als der Rest, „sein eigenes Ding machen“ und „sich nicht unterkriegen lassen“. Das erzeugt Spitzenleistungen, unermesslichen Reichtum einzelner, Wohlstand für viele, technologische Entwicklung auf hohem Niveau, aber auch Werteverfall, mangelnden Gemeinschaftssinn, Einsamkeit, Krieg, Gewalt, Gleichgültigkeit, Depressionen, Krankheiten, Süchte, Neurosen, Perversionen und großes Ungleichgewicht.
Viele östliche oder auch westliche, eher sozialistisch orientierte Gesellschaften sanktionieren eine zu starke Individualisierung. Der Fokus liegt auf Ein- und Unterordnung, auf dem Kollektiv, dem Team, der Mannschaft, dem Zusammenwirken der „Kräfte des Volkes“. Natürlich gibt es auch hier welche, die aus der Masse herausragen, irgendwer muss die Masse ja anführen. Auch hier kann Großes erreicht werden, aber es gibt deutlich weniger vermögende Individuen, da die Förderung individueller Vermögensbildung eng mit persönlichen Freiheiten, Privateigentum und der Möglichkeit, durch Eigeninitiative Wohlstand zu schaffen, verbunden ist. Der Mangel an persönlicher Freiheit und Entfaltungsmöglichkeit wird in diesen Systemen häufig als Unfreiheit empfunden, Ideen und Veränderungen können sich häufig nicht durchsetzen, was zur Blockade von Innovation und persönlicher Initiative und damit zu geringerem Wirtschaftswachstum führen kann. Wer „aus der Reihe tanzt“, gerät schnell ins Visier unbarmherziger, staatlicher Systeme, was zu Unterdrückung, bis hin zu schlimmsten Ungerechtigkeiten oder unmenschlicher Behandlung führen kann. Was wiederum ebenfalls in Werteverfall, mangelnden Gemeinschaftssinn, Einsamkeit, Gewalt (Bürger)krieg, Krankheit, Elend, Leid, Perversion, Depression und Traumatisierung münden kann.
Aus diesem Blickwinkel betrachtet, scheint es sinnlos zu sein, sich darüber zu streiten, welches Gesellschaftssystem „überlegen“ ist oder wo „unsere Freiheit verteidig wird“. Ein Gesellschaftssystem ist offenbar nicht das, was uns retten wird. Ich persönlich bevorzuge das westliche System, weil es mir leichter erscheint, in einem System, das äußere Freiheit betont, auch innere Freiheit zu erreichen, aber ich bin mir der dunklen Seiten dieses Systems sehr bewusst und verbringe inzwischen schon fast ein ganzes Berufsleben damit, mit sozialer und psychotherapeutischer Arbeit Licht in diese dunklen Seiten zu bringen. Bei allen Nachteilen, die das DDR-System hatte, habe ich aber schon als Kind den Unterschied im Zusammenhalt und Gemeinschaftssinn gespürt, da wir familiäre Verbindungen in diesen Teil unseres Landes hatten und gelegentlich dort waren. Als Dorfkind habe ich in den Siebziger und Achtziger Jahren auch hier im Westen noch viel Gemeinschaftssinn und Zusammenhalt mitbekommen, aber im Osten war dies noch stärker. Der Preis dafür war aber eben auch enorm hoch, genauso wie der Preis, den wir für unsere „Freiheit“ bezahlen.
Was kann nun Abhilfe schaffen? Wo ist wirkliche Freiheit zu finden? Freiheit, die nicht in Verwahrlosung, Beliebigkeit und Wahnsinn mündet, sondern in Erfüllung, Klarheit und wirklichem Glück? Wenn es in der äußeren, politischen und gesellschaftlichen Realität offensichtlich keine (Er)lösung gibt, bleibt wohl nur der Weg in die innere Realität. Warum ist das so? Weil es ohne Ursache keine Wirkung gibt. Wo kommt unsere äußere Realität her, wie ist die Zivilisation entstanden? Richtig, jemand hatte die Idee, etwas zu erschaffen, von innen nach außen. Das ging lange Zeit gut. Inzwischen gibt es aber so viel im Außen, dass viele Zeitgenossen vergessen haben, wo es einst herkam und wie sie es wieder so verändern können, dass es zu ihrem Inneren passt. Es wird vorwiegend an Symptomen herumlaboriert, anstatt an die Ursachen zu gehen. Es wird sogar bestritten, dass die Ursachen in uns zu finden sind. Die Ursache von Krieg ist die Boshaftigkeit der anderen, wir haben damit nichts zu tun, wir sind reine Engel. Die Ursachen gesellschaftlicher Missstände sind unfähige Politiker, wir haben immer alles richtig gemacht. Die Ursache für unsere Beziehungsprobleme liegt in der Untreue und Lieblosigkeit unserer Partner, wir haben ihnen immer den Himmel auf Erden bereitet und uns nichts vorzuwerfen. Die Ursachen unserer Kopfschmerzen sind Bluthochdruck oder die schlechten Gene unserer Eltern, wir ernähren uns fehlerfrei, haben die Gedanken und Gefühle von Heiligen und führen ein völlig stressfreies und ausgeglichenes Leben.
Diesem „Paradies der Narren“ setzte C.G. Jung das Konzept der Individuation entgegen. Es ist aus meiner Sicht die psychologisch-westliche Variante östlicher, aber auch westlicher Spiritualität. Das hätte Jung nicht ganz so gesehen, aber ich verstehe es so. Bei der Individualisierung westlicher Prägung geht es darum, in der äußeren Welt etwas Besonders zu werden, etwas, das man noch nicht ist. Bei der Individuation nach Jung geht es um Selbstwerdung. Eine Persona, also eine Maske für das gesellschaftliche Leben, ist erlaubt und sogar wünschenswert, aber wir sollen uns mit „mein Haus, mein Auto, mein Boot“ nicht identifizieren, sondern herausfinden, was uns wirklich ausmacht. Das erfordert mehr Mut, als man denken mag. Sich den eigenen dunklen Seiten und Schatten zu stellen, ist dabei nur die geringste Übung. Viel schwieriger ist es, sich der eigenen, lichtvollen Macht und enormen inneren Schöpferfähigkeit zu stellen und konsequent Verantwortung dafür zu übernehmen. Damit meine ich weniger jene Zeitgenossen, die ungefragt jedem, der bei „drei“ nicht auf dem Baum ist, „Botschaften aus der geistigen Welt“ übermitteln. Nein, ich meine eher die, die sich manchmal nicht ganz so sicher sind, wo etwas herkommt und dann dennoch ins Vertrauen gehen, ihr Herz öffnen und ihre Wahrheit teilen, die, die sich überwinden müssen, die lieber in der zweiten Reihe blieben und sich dennoch vorwagen und zu sich stehen. Ich meine die, die die gesellschaftlichen Erwartungen und Projektionen spüren und sich ein Herz fassen müssen, sie auszublenden, um ihren inneren Auftrag zu erfüllen.
Der Prozess der Individuation ist nicht auf die Entwicklung von äußerer Besonderheit und materieller Freiheit, sondern immer auf die Entfaltung von innerer Einzigartigkeit und echter, innerer Freiheit ausgerichtet – eingebettet in die Beziehung zu Mitmenschen und zum kollektiven Unbewussten. Damit geht das Bewusstsein einher, dass wir alle eins sind. Wir sind nicht alle am gleichen Punkt der Entwicklung, aber wir kommen alle aus der gleichen Quelle und gehen zum gleichen Ziel zurück. Das hat mit sozialistischer Gleichmacherei nicht das Geringste zu tun und auch nichts mit kapitalistischem Wettbewerb. Es geht um eine grundlegende Einheit der Menschheit bei gleichzeitigem Respekt für die ganz unterschiedlichen und individuellen Wege zwischen Start und Ziel. Der eine braucht für den Marathon den ganzen Tag oder kommt erstmal gar nicht ins Ziel, der andere macht es in zwei Stunden. Ohne die Langsamen und Verlierer wäre der Sieger nicht sichtbar und er verliert außerdem morgen in einer anderen Disziplin, die ihm nicht so liegt.
Der Weg der Individuation beinhaltet Selbstreflexion, Schattenarbeit (Auseinandersetzung mit verdrängten Persönlichkeitsanteilen), die Integration von Animus/Anima (weibliche und männliche Seite der Psyche) und letztlich eine Harmonisierung der gesamten Persönlichkeit. Was soll das bringen? Warum der ganze Aufwand, wenn man auch einfach die „richtige Partei“ an die Macht bringen könnte, die mit den „gescheiten Politikern“, und alles würde gut? Gegenfrage: Angenommen, Du bist richtig schwer krank und hast richtig komplizierte Symptome, die sich gegenseitig bedingen und Du bist schon ohne Erfolg von „Pontius zu Pilatus“ gelaufen. Du bist dabei vielen Aufschneidern und vielen leeren Versprechungen begegnet und jeder behauptete, die Weisheit für sich gepachtet zu haben, und dass seine Methode „garantiert“ helfen würde. Was machst Du? Vielleicht gibst Du Dich auf und resignierst. Vielleicht wirst Du ab einem bestimmten Punkt aber auch anfangen, nach den Ursachen zu suchen, Du wirst es müde sein, zu leiden und wirst anfangen, zum Experten für Dein Problem zu werden. Du wirst Schicht um Schicht tiefer graben, bis Du verstanden hast, wie alles angefangen hat und wo Du gesundheitlich falsch abgebogen bist. Dann wirst Du nach jemandem mit einer ganzheitlichen Sichtweise suchen, der Dir hilft, andere Ursachen zu setzen, um andere Wirkungen zu erfahren. Mit anderen Worten: Du wirst Dich konfrontieren und wachsen, um von innen heraus eine andere Realität zu erschaffen. Und deswegen bin ich davon überzeugt, dass uns nur der Weg nach Innen retten wird, während wir im Äußeren natürlich weiterhin daran arbeiten, die verheerenden Folgen unserer Unausgeglichenheiten durch effektivere Administration der materiellen Welt abzumildern.
In diesem Sinne wünsche ich Dir einen erkenntnisreichen September und freue mich wie immer, von Dir zu hören und Dich zu sehen!
Jörg Schuber
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